Dagmar Schultz
Kindheit und Jugend
Dagmar Schultz kommt 1941 zur Welt und wächst in einem gemeinsamen Haushalt mit drei Generationen von Frauen
Schultz, Dagmar: Witnessing Whiteness – ein persönliches Zeugnis, in: Eggers, Maureen Maisha / Kilomba, Grada / Piesche, Peggy / Arndt, Susan (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte - Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 514-529, hier: S. 514. - ihrer Großmutter, Mutter und Schwester - im Berliner Westend auf. Ihr Vater ist Soldat. Während eines Heimaturlaub 1943 beantragt er, seine Stelle bei der Autounion wieder aufnehmen zu dürfen, denn er will nicht zurück an die Front.Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 0:02:30. Die Antwort verzögert sich - und enthält eine Absage. Verspätet kehrt er nach Russland zurück und wird dort wegen Desertion verurteilt. Daraufhin nimmt er sich unter ungeklärten Umständen das Leben. Der Mutter wird wegen des Suizids die Witwen- und Waisenrente verweigert. Erst nach zehnjährigem Ringen vor Gericht gewähren ihr die Ämter die Zahlungen.Schultz, Dagmar: Witnessing Whiteness – ein persönliches Zeugnis, in: Eggers, Maureen Maisha / Kilomba, Grada / Piesche, Peggy / Arndt, Susan (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte - Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 514-529, hier: S. 514.
Trotz des frühen Verlusts und häufiger Geldsorgen erinnert sich Schultz an eine unbeschwerte Kindheit. Sie sei behütet aufgewachsen, erzählt sie, und mit vielen Freiheiten.
Oral History-Interview mit Dagmar Schultz, Zeitcode: ca. 0:07:15. Nur eins möchte ihre Mutter nicht: Werde bloß nicht so ein Mädchen, die so anfängt zu kichern, wenn ein Junge ins Zimmer kommt.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 0:10:00. Allein das Klima der Nachkriegsgesellschaft, in die Schultz hineinwächst, ist bedrückend. Im Schulunterricht hört die Weltgeschichte 1930 auf, über Nationalsozialismus, Krieg und Shoa herrscht Schweigen.Schultz, Dagmar: Racism in the New Germany and the Reaction of White Women, in: Clausen, Jeanette / Friedrichsmeyer, Sara (Hg.): Women in German Yearbook – Feminist Studies in German Literature and Culture, Lincoln/London 1994, S. 241-251, hier: S. 241. In jungen Jahren träumt Schultz davon, Stewardess zu werden, um aus dem doch sehr spießigen und […] einschränkenden Deutschland rauszukommen.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 0:15:15.
Nach ihrem Abitur arbeitet Dagmar Schultz ein Jahr lang als Au-pair in Frankreich und beginnt danach eine Ausbildung als Dolmetscherin und Wirtschaftskorrespondentin in Französisch und Englisch. In dieser Zeit kommt sie über einen US-amerikanischen Lehrer mit Student*innen, Schauspieler*innen, älteren Schriftstellern und Kommunist*innen in Kontakt, mit denen sie nächtelang diskutiert. Nach Abschluss ihrer Ausbildung schreibt sich Schultz 1961 an der FU Berlin für Nordamerikanistik, Publizistik und Romanistik ein. Das war ein sehr erhebender Moment für mich, das erste Mal die Stufen von der Uni da am Ford-Gebäude hochzusteigen und zu sagen, ich bin Studentin
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 0:09:00., erinnert sie sich heute.
Dagmar Schultz
US-Bürgerrechtsbewegung und Puerto Rico
Bereits zwei Jahre später zieht es Dagmar Schultz zurück ins Ausland. Über den befreundeten Sprachlehrer erlangt sie ein Einwanderungsvisum für die USA und zieht 1963 nach Ann Arbor, Michigan um Rundfunk, Fernsehen und Journalismus und Theater zu studieren. Vor Ort kommt Schultz durch ihre Mitbewohner*innen mit dem Congress of Racial Equality (CORE), einer Gruppe der Bürgerrechtsbewegung, in Kontakt und engagiert sich dort. Heute sieht sie darin nach ihrer Zeit in den Berliner Intellektuellenkreisen einen ziemlich nahtlose[n] Übergang […] in politische Aktivität.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 0:26:00. Doch das Ende des Nationalsozialismus und der Shoa liegen kaum zwei Jahrzehnte zurück und nicht alle empfangen die junge weiße Frau aus Deutschland mit offenen Armen. Schultz sieht sich zum ersten Mal in ihrem Leben mit Fragen nach kollektiver Schuld, Scham und Verantwortung konfrontiert, die sie noch lange Zeit beschäftigen.
Nachdem die Studentin ihre Magisterarbeit über Rundfunk und Fernsehen in Westafrika abgeschlossen hat, geht sie als Lehrerin ans Rust College, einer Hochschule für Afroamerikaner*innen in Mississippi um dort Französisch, Rhetorik und Theater zu lehren. In ihrer Freizeit unterstützt sie die „Mississippi Freedom Democratic Party“ (MFDP) in dem, was sie 1966 in einem Text als den Kampf um eine neue Welt
Schultz, Dagmar: Seltsam schönes Land – Land der Ungerechtigkeit, in: Frankfurter Hefte, 9/1966, S. 627-634, hier: S. 629. bezeichnet. In dem Artikel schildert Schultz die bedrückende Atmosphäre, in der sich Schwarze US-Amerikaner*innen zusammen mit einigen weißen Verbündeten gegen Schikane, Entrechtung, Kriminalisierung und Mord einsetzen: Wochenlang mag nichts passieren, man mag sich in seiner halbbewußten Angst lächerlich vorkommen, bis dann plötzlich jemand in seinem Wagen von Autofahrern von der Landstraße in einen Graben gejagt wird; bis eines Abends ein Tankstellenwart auf einen [Schwarzen Studenten] abfeuert, der sich nicht abweisen lassen will; bis drei Freiheits-Kämpfer in den Sümpfen verschwinden oder Kinder in einer Freiheitsschule verbrennen.
Schultz, Dagmar: Seltsam schönes Land – Land der Ungerechtigkeit, in: Frankfurter Hefte, 9/1966, S. 627-634, hier: S. 634.
Ein Jahr lang bleibt Schultz in Mississippi, dann zieht sie weiter nach Puerto Rico. Dort arbeitet sie für das Familienplanungsprogramm und den Freiwilligendienst des Office of Economic Opportunity (OEO), einer US-Einrichtung zur Armutsbekämpfung. Meine Aufgabe war, das Programm zu begleiten. Wir hatten ungefähr 60 Büros auf der Insel, also in kleinen Orten. Und ich bin dann mit einem VW Hügel auf und ab zu all diesen Büros gefahren,
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode ca. 0:42:30. erzählt Schultz. Die Arbeit für das Familienplanungsprogramm prägt sie sehr. Viele der Frauen, die sie kennenlernt, leben mit ihren Kindern in extremer Armut und haben keinen Zugang zu Verhütungsmitteln. Sterilisationen sind daher gefragt, werden aber teils ohne Einverständnis an Frauen durchgeführt. Mit ihren Kolleginnen bietet Schultz die Spirale als Alternative an. Dass wenige Jahre zuvor die Pille an puerto-ricanischen Frauen getestet wurde, bevor sie in Europa und den USA zugelassen wurde, erfährt Schultz erst später.Vgl. Marks, Lara: Human guinea pigs? The history of the early oral contraceptive clinical trials, History and Technology, H. 15, 1999, S. 263-288.
Dagmar Schultz
Promotion und Coming Out
1967 nimmt Dagmar Schultz an der University of Wisconsin in Madison ein Doktorandinnenstudium im Fach Bildungssoziologie auf. Auch hier engagiert sie sich politisch, etwa bei den Streiks der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen für mehr Gehalt, der Bewegung gegen den Vietnamkrieg und der Initiative für ein Black Studies Center. In den politischen Kreisen, in denen sie sich bewegt, organisieren sich Frauen und Männer gemeinsam – bis sie schließlich mit einer neuen Gruppe in Kontakt kommt: Da waren die ersten Speak Outs über Schwangerschaftsabbruch von Frauen […] Das war eigentlich so das erste Mal, dass ich mit speziell frauenbezogenen Sachen zu tun hatte.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 0:56:30.
1969 geht Schultz als Dozentin für Frauenstudien an das Columbia College in Chicago und tritt dort der Women‘s Liberation Union bei. Deren Ziele überzeugen sie bis heute: Die Women‘s Liberation Union war […] sehr fortschrittlich in ihren politischen Einstellungen. […] In den Prinzipien stand schon drin, mit Schwarzen Frauen, mit Arbeiterfrauen zusammenarbeiten und Imperialismus bekämpfen und so fort. Also, es war sehr links ausgerichtet und bewusst ausgerichtet auf Unterschiede zwischen Frauen.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 1:01:30. Obwohl Schultz bis dato nur eine kurze Beziehung mit einer Frau hatte, schließt sie sich der Lesbengruppe der Union an – und blickt fortan anders auf (ihre eigenen) Liebesbeziehungen: Ich war jetzt nicht jemand, die sich schon immer irgendwie so begriff […] [Ich] war sozusagen so eine Bewegungslesbe.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 1:05:30.
Dagmar Schultz
Berliner Frauenbewegung: Frauenzentrum, FFGZ, Orlanda
1972 schließt Schultz ihre Doktorarbeit über die Geschichte der „Wisconsin School for Workers“ ab und kehrt nach einer langen Europareise 1973 zurück nach Berlin. Dort möchte sie vor allem ihre Schwester unterstützen, die mit einer leichten Behinderung lebt. Nachdem Schultz einige Zeit gejobbt hat, bewirbt sie sich am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität. Ihre Bewerbung resultiert nicht allein in einer Stelle, sondern führt sie auch direkt in ihre erste Berliner Frauengruppe. Gisela Bock war nun auch in der Kommission, glaube ich, die entschied, ob ich da eingestellt werde. Die wollte nun auch ein bisschen wissen, was ich nun für eine da bin, und hat sich dann mit mir verabredet und kam zu mir nach Hause,
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 1:19:45. erzählt Schultz. Dann ging sie die Treppe runter, verabschiedete sich und sagte dann so beiläufig: ‚Ja, übrigens, ich bin in der 218-Gruppe im Frauenzentrum. Wenn das dich interessiert, kannst du ja mal kommen.‘
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 1:19:45.
Schultz folgt der Einladung und tritt in die 218-Gruppe ein.Bezieht sich auf Paragraph 218, der im Strafgesetzbuch bis heute den Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert. Kurze Zeit später wechselt sie in die Selbstuntersuchungsgruppe, die sich mit dem weiblichen Körper, Sexualität und Schwangerschaft, schulmedizinischen und alternativen Behandlungsmethoden beschäftigt. 1977 berichten Schultz und zwei ihrer Mitstreiterinnen in der Courage von ihrer Arbeit: Wir sind jetzt 20 Frauen zwischen 19 und 36 aus verschiedenen Berufen […] wir meinen, daß jede Frau Selbsthilfe praktizieren und […] anderen Frauen etwas darüber vermitteln [kann], wie sie gesund bleiben und mit gewissen Störungen ihres Körpers umgehen können.
Lauterbach, Jutta / Scharf, Doris / Schultz, Dagmar: Es geht um unseren Körper als Ganzen – Eröffnung des Frauengesundheitszentrums, in: Courage – Berliner Frauenzeitung, 11/1977, S. 13-18, hier: S. 14, [Zugriff am 16.04.2020 unter library.fes.de/cgi-bin/courage.pl ] Die Frauen betonen, dass sie nicht wie übliche Kliniken und Praxen ein reiner Dienstleistungsbetrieb sein wollen. […] Wir sind eine Herausforderung an das Gesundheitssystem, einmal durch die Art, wie wir Gesundheitsversorgung durchführen, zum anderen, indem wir Mißstände durch Öffentlichkeitsarbeit aufdecken.
Lauterbach, Jutta / Scharf, Doris / Schultz, Dagmar: Es geht um unseren Körper als Ganzen – Eröffnung des Frauengesundheitszentrums, in: Courage – Berliner Frauenzeitung, 11/1977, S. 13-18, hier: S. 17, [Zugriff am 16.04.2020 unter library.fes.de/cgi-bin/courage.pl ]
Die Gruppe veranstaltet Straßentheater, praktiziert menstruelle Extraktion (die einen frühzeitigen Schwangerschaftsabbruch bedeuten kann), leitet Kurse zu vaginalen Selbstuntersuchungen an und gründet die Zeitschrift CLIO. Ein besonderer Erfolg ist ihre Selbsthilfebuch „Hexengeflüster“ im Jahr 1975, von der die Frauen 60.000 Exemplare verkaufen.Feministisches Frauengesundheitszentrum Berlin – Joan Murphy, Dagmar Schultz, in: Feministische Gesundheitsrecherchegruppe Berlin: Practices of Radical Health Care – Materialien zur Gesundheitsbewegung der 70er und 80er Jahre, Berlin 2019, S. 11-16, hier: S. 16. Nach einiger Zeit ziehen sie aus dem Frauenzentrum in eigene Räume, zunächst in Lichterfelde, danach im Kreuzberger „Hexenhaus“.Berlin besetzt, letzter Zugriff am 06.10.2020 unter https://www.berlin-besetzt.de/#!id=135
1974 beteiligt sich Schultz am Aufbau einer weiteren Institution der Frauenbewegung. Zunächst bereitet sie mit Gaby Karsten, Roswitha Burgard und weiteren Aktivistinnen die Publikation von „Hexengeflüster“ vor. Zudem wollen die Frauen weitere Texte über feministische Themen – etwa ihre Diplomarbeiten – verlegen, um sie besser mit anderen teilen zu können. Schultz veröffentlicht auf diese Weise 1979 ihre Studie „Ein Mädchen ist fast so gut wie ein Junge“ über Sexismus in der Erziehung.Vgl. Schultz, Dagmar: Ein Mädchen ist fast so gut wie ein Junge – Sexismus in der Erziehung, Band 1: Interviews, Berichte, Analysen, Berlin 1978.
Schultz, Dagmar: Ein Mädchen ist fast so gut wie ein Junge – Sexismus in der Erziehung, Band 2: Schülerinnen und Pädagoginnen berichten, Berlin 1979. Keine der Frauen plant, professionelle Verlegerin zu werden. Das ändert sich, als die Gruppe eine Übersetzung von Florence Rushs Buch „Das bestgehütete Geheimnis“ über sexualisierte Gewalt gegen Kinder publiziert, erklärt Schultz: Da kriegten wir plötzlich Nachricht vom Stern, dass sie darüber was machen wollten, Titelgeschichte. […] Damit wurde dann der Verlag auf eine andere Ebene geschoben… geschubst, weil jetzt plötzlich die Vertriebe Interesse hatten.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 1:35:00. Aus dem Frauenselbstverlag wird so 1982 der „sub rosa Frauenverlag“, der seit 1986 „Orlanda“ heißt.
Dagmar Schultz
Begegnung mit Audre Lorde
1980 begegnet Dagmar Schultz auf der Weltfrauenkonferenz in Kopenhagen einer Frau, die ihr Leben nachhaltig beeinflussen wird: der Poetin und Aktivistin Audre Lorde. Schon 1981 sieht sie Lorde wieder, diesmal neben der Dichterin Adrienne Rich als Hauptrednerin auf der Tagung „Frauen antworten auf Rassismus“ der National Women‘s Studies Association an der Universität von Connecticut.Vgl. Schultz, Dagmar: Dem Rassismus in sich begegnen, in: Courage – Berliner Frauenzeitung, 10/1981, S. 17-21, [ Zugriff am 16.04.2020 unter library.fes.de/cgi-bin/courage.pl ] Schultz und ihre Begleiterin, die Historikerin Gudrun Schwarz sind so beeindruckt, dass sie sich vornehmen, die Vorträge in Berlin zu diskutieren, erzählt sie: Zu der Zeit hatten wir auch gerade eine Gruppe angefangen im Frauen-Café […] das Thema war eigentlich Lesben und Konzentrationslager zu der Zeit, als wir da zu der Tagung gingen. Wir kamen zurück und dachten: […] Mal gucken, […] was wir also trotz Unterdrückung von Lesben gleichzeitig mit Antisemitismus zu tun haben.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 1:45:00.
Schultz‘ antirassistisches Engagement und ihre Auseinandersetzung mit Antisemitismus – auch und insbesondere in der Frauenbewegung – intensiviert sich im Laufe der Jahre. Auf dem Kongress „‚Sind wir uns denn so fremd‘ – Ausländische und deutsche Frauen im Gespräch“ in Frankfurt am Main im Jahr 1983 – die erste Veranstaltung, die dem Thema in der Frauenbewegung in Deutschland ein Forum bietet – lernt Schultz die Schwarze Aktivistin May Ayim kennen. Die beiden Frauen verbindet in den Folgejahren neben gemeinsamen Projekten eine enge Freundinnenschaft. Im selben Jahr bringt Schultz das Buch „Macht und Sinnlichkeit“ mit Texten von Audre Lorde und Adrienne Rich heraus, das weit rezipiert wird. Von 1984 bis 1989 ist sie Mitglied des lesbisch-feministischen Schabbeskreis und später in der AG Frauen gegen Antisemitismus.Vgl. Antmann, Debora: Lesbisch feministischer Schabbeskreis, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, [ Zugriff am 06.10.2020 unter digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/lesbisch-feministischer-schabbeskreis ]
1984 lädt Dagmar Schultz Audre Lorde als Gastdozentin an die FU Berlin ein. Sie sieht darin auch eine Chance für die Frauenbewegung in der BRD, die schon seit Längerem im Wandel begriffen ist: Es gab die eine Tendenz, nach Hunsrück in die Friedensbewegung zu gehen. Eine Tendenz war, sich mit Yoga, Spiritualität und so zu befassen […] Als ich dann Audre Lorde auf der Weltfrauenkonferenz in Kopenhagen kennenlernte, dachte ich, wenn jemand wie sie nach Deutschland käme, das könnte nochmal wirklich so ein Anstoß sein, sich nochmal anders zu orientieren, […] zu gucken: Wo wollen wir eigentlich hin? Was wollen wir eigentlich? Was sind unsere Ziele, Visionen und welche Strategien können wir da entwickeln?
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 1:56:00.
Lordes Berlinbesuch hinterlässt in der Tat einen bleibenden Eindruck. Die Dichterin motiviert Aktivistinnen of Colour, Mitstreiterinnen zu suchen, in ihren Freundinnenkreisen herumzufragen oder Schwarze und Frauen of Colour auf der Straße anzusprechen. Für die afro-deutschen Frauen ist dies der Auftakt einer eigenen Organisierung, die Mitte der 1980er Jahre in die Gründung der Frauengruppe Adefra und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) mündet. Lorde regt an, dass der Orlanda Frauenverlag ein Buch der Schwarzen Frauengruppe veröffentlicht, bevor er weitere ihrer Texte verlegt. 1986 erscheint daraufhin der Band „Farbe bekennen – Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“.Oguntoye, Katharina / Opitz, May / Schultz, Dagmar (Hg.): Farbe bekennen – Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986.
Auch für Schultz öffnen sich durch Audre Lorde und ihre aktivistischen Impulse neue Perspektiven. Das Orlanda-Team diskutiert die eigene Zusammensetzung und stellt 1987 die erste afro-deutsche Mitarbeiterin ein.Schultz, Dagmar: Witnessing Whiteness – Ein persönliches Zeugnis, in: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte,. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast Verlag, 2005, S. 524. Schultz sieht sich erstmals mit der deutschen Kolonialgeschichte konfrontiert. Zunehmend bemerkt und vermisst sie die Anwesenheit von Schwarzen, migrierten und Frauen of Colour in der Frauenbewegung. Sie begreift diese Abwesenheit als ein[n] integrale[n] Bestandteil der Identifikation weißer Frauen und ihrer politischen Arbeit
Schultz, Dagmar: Racism in the New Germany and the Reaction of White Women, in: Clausen, Jeanette / Friedrichsmeyer, Sara (Hg.): Women in German Yearbook – Feminist Studies in German Literature and Culture, Lincoln/London 1994, S. 241-251, hier: S. 242, Übersetzung: fm, der mit einem eindimensionalen Machtverständnis einhergeht, wie Schultz 1994 schreibt: Sich selbst als Opfer zu sehen, erfüllte auch die Funktion, sich nicht mit der Rolle auseinandersetzen zu müssen, die weiße Frauen bei der Unterstützung des patriarchalischen Systems spielten und spielen.
Schultz, Dagmar: Racism in the New Germany and the Reaction of White Women, in: Clausen, Jeanette / Friedrichsmeyer, Sara (Hg.): Women in German Yearbook – Feminist Studies in German Literature and Culture, Lincoln/London 1994, S. 241-251, hier: S. 242, Übersetzung: fm Im selben Artikel geht die Aktivistin mit der weißen Frauenbewegung und deren Reaktion angesichts der rechtsextremen Pogrome in den frühen 1990er Jahren hart ins Gericht: In dieser Situation ist die Frauenbewegung weitgehend gelähmt durch ihren eigenen Mangel an Strukturen und durch die Tatsache, dass sie es versäumt hat, für sich selbst den Zusammenhang zwischen Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Klassenkampf zu klären.
Schultz, Dagmar: Racism in the New Germany and the Reaction of White Women, in: Clausen, Jeanette / Friedrichsmeyer, Sara (Hg.): Women in German Yearbook – Feminist Studies in German Literature and Culture, Lincoln/London 1994, S. 241-251, hier: S. 249, Übersetzung: fm
Dagmar Schultz
Wissenschaft und Lehre
Dagmar Schultz‘ aktivistisches Engagement ist stets mit ihrer Arbeit an der Universität verwoben. 1983 beginnt sie ein DFG-Projekt, für das sie mit Carol Hagemann-White Akademiker*innen zu ihrer Sicht auf die Geschlechterverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb interviewt. Das Projekt läuft 1986 aus, 1989 schließt Schultz ihre Habilitation mit dem Titel „Die Arbeitssituation von Frauen und Männern im Hochschuldienst aus der Sicht der Betroffenen“ ab. Im Folgejahr wird sie als Professorin für Sozialpädagogik und Sozialarbeit an die Alice Salomon Hochschule in Berlin berufen. Heute beschreibt Schultz den Spagat zwischen Erwerbsarbeit und Aktivismus wie folgt: Eine Zeitlang habe ich mal gesagt: Entweder machst du Karriere oder du machst Bewegung. Ich war ja an der FU bis 86 und dann arbeitslos. Dann habe ich im Verlag gearbeitet mit Arbeitslosengeld […] Birgit Rommelspacher hat gesagt, da gibt es eine Stelle bei uns. Sie war schon seit einem Jahr an der ASH. Und ich habe dann mit den Kolleginnen gesprochen. Die sagten, ja, Mensch, bewirb dich. […] Da war ich schon 50, das war letzter Drücker.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 3:21:00.
Ihre Stelle an der Hochschule begreift die Wissenschaftlerin auch als Möglichkeit, bestehende Strukturen zu verändern. So gibt sie zusammen mit einem Kollegen ein Drittel ihrer Stelle auf, um einer Professorin of Colour eine Gastprofessur an der ASH zu ermöglichen – die Stelle wird jedoch nicht, wie erhofft, verstetigt. Zu Beginn der 1990er Jahre richtet sie mit Kolleg*innen ein Promotions-Colloquium für Frauen an Fachhochschulen ein. Mit ihrer Partnerin Ika Hügel-Marshall gibt sie Antirassismus-Workshops für weiße Frauen an Hochschulen und in Frauenprojekten.
Anfang der 2000er Jahre erhält Schultz innerhalb kurzer Zeit zwei Krebsdiagnosen. Sie hat Glück im Unglück und übersteht beide Krankheiten gut, entscheidet sich jedoch 2005 im Alter von 64 Jahren in die Rente zu gehen.
Dagmar Schultz
Filme für den Generationendialog
Bereits 1995 entsteht anlässlich eines Besuchs von Audre Lordes Partnerin Gloria Joseph die Idee, einen Film über Lordes Zeit in Berlin zu machen. Nach ersten Aufnahmen setzt ein einschneidendes Ereignis diesen Plänen ein Ende: Im August 1996 nimmt sich May Ayim das Leben. Schultz koproduziert daraufhin Maria Binders Film „Hoffnung im Herzen“, über die Dichterin und antirassistische Aktivistin.Binder, Maria (Regie, Produktion) und Schultz, Dagmar (Produktion): Hoffnung im Herzen – Mündliche Poesie – May Ayim, 1997.
Erst über ein Jahrzehnt später nimmt Schultz die Fäden des abgebrochenen Projekts wieder auf. Bei der Arbeit schöpft sie aus zahlreichen Audioaufnahmen, Filmmaterial und 600 Fotos, die sie als Audre Lordes „Hausfotografin“Schultz, Dagmar: Audre Lorde – The Berlin Years 1984 to 1992 – The Making of the Film and Its Reception, in: Feminist Studies, 40, 1/2014, S. 199-206, hier: S. 199, Übersetzung: fm in den 1980er und 1990er Jahren angefertigt hatte.Schultz, Dagmar: Audre Lorde – The Berlin Years 1984 to 1992 – The Making of the Film and Its Reception, in: Feminist Studies, 40, 1/2014, S. 199-206, hier: S. 202. Ika Hügel-Marshall, Ria Cheatom und Aletta von Vietinghoff helfen ihr bei der Arbeit an dem Skript. Freund*innen, Mitstreiter*innen und einige Institutionen unterstützen das Projekt finanziell. Dazu kommt das Geld des Margherita-von-Brentano-Preises, der Schultz 2011 von der FU Berlin verliehen wird.Vgl. Freie Universität Berlin (Hg.): Dagmar Schultz – Engagement gegen Sexismus und Rassismus, letzter Zugriff am 03.11.2020 unter https://www.fu-berlin.de/sites/margherita-von-brentano/preistraegerinnen/Dagmar_Schultz_2011.html
2012 feiert der Film „Audre Lorde – Die Berliner Jahre 1984 bis 1992“ seine Weltpremiere auf der Berlinale und wird danach auf dutzenden Festivals auf der ganzen Welt gezeigt und etliche Male ausgezeichnet.Schultz, Dagmar (Produktion und Regie): Audre Lorde – Die Berliner Jahre 1984 bis 1992, 2012. Schultz versteht ihn als ein Projekt des ‚Archivaktivismus‘ – d.h. sowohl ein persönliches, individuelles und soziopolitisches Dokument, als auch als ein Text, der das Potenzial hat, Aktivismus hervorzubringen.
Schultz, Dagmar: Audre Lorde – The Berlin Years 1984 to 1992 – The Making of the Film and Its Reception, in: Feminist Studies, 40, 1/2014, S. 199-206, hier: S. 199, Übersetzung: fm Der Film ist auch ein Geschenk an eine jüngere Generation feministischer Aktivist*innen, mit denen Schultz gern noch stärker in den Dialog treten würde: Es ist so, dass neue Generationen sich auch immer neue Sachen erarbeiten müssen und das selber erleben müssen. Aber andererseits, denke ich, könnte es auch leichter gemacht werden.
Oral History-Interview Schultz, Zeitcode: ca. 3:10:30.