Marinka Körzendörfer

Filmclips

Marinka Körzendörfer

Kindheit und Jugend

Marinka Körzendörfer wird 1953 in eine FrauenfamilieOral History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:01:30 hineingeboren. Sie wächst bei ihrer Mutter Ursula Körzendörfer (1930–2010) auf, die als Journalistin arbeitet. Alle paar Jahre kommt die Großmutter aus Bayern zu Besuch.Oral History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:01:30;
Körzendörfer, Marinka: Für Fragen ist es nie zu spät, bleibt also die Uhr?, in: Weibblick, 1993, H. 12, S. 19–20.
Da ihre Mutter voll erwerbstätig ist, wird Marinka früh selbstständig.Oral History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:01:30 Bis zu ihrem fünften Lebensjahr lebt sie in einem Wochenheim, einer Einrichtung, in der Kinder montags bis freitags durchgehend betreut wurden. Später ist sie Schlüsselkind.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:05:30
Vgl. Stary, Ute, 19.01.2018: Wochenkrippen und Kinderwochenheime in der DDR, [ Zugriff am 20.02.2019 unter bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/262920/wochenkrippen-und-kinderwochenheime-in-der-ddr ]

In der Schule ist Marinka meist gut, aber ungern fleißig. Entweder ich konnte es oder es war ein WürgenOral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:12:00, sagt sie. Nach dem Abitur im Jahr 1972 beginnt sie ein Volontariat bei der Zeitung Junge Welt. Die Arbeit gefällt ihr und so beginnt Körzendörfer 1973 ein Journalismus-Studium an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Nach ihrem Abschluss im Jahr 1977 arbeitet sie zunächst in der Redaktion der Zeitschrift Der Bau der IG Bau-Holz, im Jahr darauf wechselt sie in die Politikabteilung der Berliner Zeitung. Dort beginnt sie mit dem Beruf zu hadern: Zum Ticker zu gehen, die Meldung abzureißen und zur Kenntnis zu nehmen und dann so verkürzt wiederzugeben, dass der Inhalt noch erkennbar ist. Das ist natürlich nicht das, was ich unter Politik verstanden habe.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:16:00

Marinka Körzendörfer

Coming Out und Lesben in der Kirche

Marinka hinterfragt erst spät ihre sexuelle Orientierung . Zunächst hat sie natürlich auch Sex mit Männern gehabt. War ja ganz normal.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:17:30. Doch ihr kommen Zweifel: Irgendwie hatte ich immer das Gefühl: Das mit den Jungs, das ist nichts.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:17:38. Die Skrupel vertiefen sich, als Marinka mit 28 Jahren weiche Knie bekommt – wegen einer Frau. Die erwidert die Gefühle nicht, doch die beiden bleiben befreundet. Gemeinsam besuchen sie Veranstaltungen von politischen Gruppen, die sich in den Kirchgemeinden Ostberlins organisieren. Sie sind auch anwesend, als Pfarrer Rainer Eppelmann im Jahr 1982 einer Gruppe von Lesben und Schwulen, die sich in der Samaritergemeinde in Berlin-Friedrichshain treffen will, eine Absage erteilt.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:20:00;
Brühl, Olaf: 25.4.1982, in: ibid.: Chronologisches Archiv. Daten-Pool zum Diskurs männlicher Homosexualität in der DDR bzw. von 1947 bis 15.5.1997. [ Zugriff am 07.02.2019 unter olafbruehl.de/chronik.htm ]
Über diese Gruppe kommt Marinka schließlich mit sich organisierenden Lesben in Kontakt . Als sie im November 1983 spontan eine Nacht mit einer Bekannten verbringt, verschwinden auch die letzten Bedenken: Mit meinen jungen 29 hatte ich dann endlich die praktische Erfahrung und wusste schon währenddessen: Genau das ist es.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:22:00.

Die Lesben und Schwulen, die von der Samaritergemeinde abgelehnt wurden, treffen sich schließlich in der Philipusgemeinde in Berlin-Hohenschönhausen. Ende des Jahres 1983 stößt Körzendörfer dazu.Bühner, Maria, 13.09.2018: Feministisch, lesbisch und radikal in der DDR – Zur Ost-Berliner Gruppe Lesben in der Kirche [ Zugriff am 06.02.2019 unter digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/feministisch-lesbisch-und-radikal-der-ddr-zur-ost-berliner-gruppe-lesben-der-kirche ] Männer und Frauen organisieren sich zu dem Zeitpunkt gemeinsam als AK Homosexuelle Selbsthilfe, separieren sich jedoch kurze Zeit später.Körzendörfer, Marinka: Fast 10 Jahre Lesbenbewegung in der DDR und ihr Übergang in die bundesdeutsche Wirklichkeit, in: Weibblick, 1993, H. 14, S. 6–11, hier: S. 7. Im Januar 1984 wird Körzendörfer in die Vorbereitungsgruppe der Lesben in der Kirche aufgenommen, ein kleiner Kreis, der die Treffen in der Kirche vorbereitet. Die Gruppe veranstaltet zunächst vor allem Gesprächskreise für Lesben. Auch Heteras sind willkommen, mitunter auch Männer. Die Themen richten sich nach den Interessen der Besucher*innen: Sprache, Mode, Macht, Literatur, Selbstverteidigung, Sexualität etc.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:45:00. Dazu organisiert die Lesbengruppe mit verschiedenen jungen Gemeinden Coming Out-Abende.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:38:30. Die Kontakte, die so entstehen, ermöglichen den Umzug des Arbeitskreises in die Gethsemane-Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg.

Körzendörfer engagiert sich besonders für die Vernetzung der Gruppe. Sie geht zur Vorbereitungsgruppe der Friedenswerkstatt, die jährlich in der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg stattfindet, und vertritt die Lesben in der Kirche bei den Mitarbeiter*innen-Treffen der Arbeitskreise von Schwulen und Lesben aus der gesamten Republik.Friedenswerkstatt, in: Bundeszentrale für politische Bildung / Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. (Hg.): Jugendopposition in der DDR [ Zugriff am 22.05.2019 unter jugendopposition.de/ueber-jugendopposition ]
Könne, Christian, 28.02.2018: Schwule und Lesben in der DDR und der Umgang des SED-Staates mit Homosexualität, in: Bundeszentrale für politische Bildung [ Zugriff am 22.05.2019 unter bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/265466/schwule-und-lesben-in-der-ddr ]
Die Lesbengruppe bedeutet ihr viel: Wir arbeiteten gemeinsam, lebten dicht beieinander und miteinander, liebten, stritten und haßten uns. […] Wir hatten eine Intimität innerhalb der Gruppe, wie ich sie nie wieder erlebt habe und manchmal heute vermisse.Körzendörfer, Marinka: Frauen und Staatssicherheit, in: Weibblick, 1994, H. 16, S. 26–28, hier: S. 26.

Marinka Körzendörfer

Aktivismus in Ravensbrück

Nach einiger Zeit genügt den Lesben die Organisierung in den Räumen der Kirche nicht mehr. Sie wollen in der Gesellschaft sichtbar werden. Im Frühjahr 1984 fahren sie zur KZ-Gedenkstätte Ravensbrück . Wir wollten unsere lesbischen Schwestern ehren, sagt Körzendörfer, uns zeigen als Lesben, indem wir unsere Schwestern, die tot sind, ehren.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:53:00. Die Frauen legen einen Kranz nieder, der an die lesbischen Opfer des NS erinnert, und schreiben sich ins Besucherbuch der Gedenkstätte ein.

Als Marinka Körzendörfer wenige Tage später zur Gedenkstätte zurückkehrt, sind der Kranz und der Eintrag in dem Buch entfernt worden. Die Frauen beschweren sich daraufhin per Eingabe beim Minister für Kultur und kontaktieren weitere Repräsentanten des Staats – ohne Ergebnis.Bühner: Feministisch, lesbisch und radikal. Im Jahr 1985 verschärft sich die Situation, als die Lesbengruppe einer Feier anlässlich des 40. Jahrestags der Befreiung in der Gedenkstätte beiwohnen will. Bereits im Vorfeld wird ihnen die Teilnahme von staatlicher Seite untersagt.Bühner: Feministisch, lesbisch und radikal. Als sie dennoch aufbrechen, werden die Frauen in Fürstenberg von der Polizei festgenommen, in einer nahe gelegenen Schule festgehalten und einzeln verhört. In Gedächtnisprotokollen zu den Vorfällen sprechen einige der Frauen von verbaler und körperlicher Gewalt.K., M.: Bericht der „Lesben in der Kirche“ über einen Polizeieinsatz 1985 gegen den geplanten Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück, in: Sillge, Ursula: Un-sichtbare Frauen – Lesben und ihre Emanzipation in der DDR, Berlin 1991, S. 139-141;
Bühner: Feministisch, lesbisch und radikal.
Wieder beschwert sich die Gruppe, diesmal beim Innenministerium und weiteren öffentlichen Personen.Bühner: Feministisch, lesbisch und radikal.

Noch im Sommer 1985 lenkt der Staat ein. Der Innenminister lässt eine Entschuldigung ausrichtenOral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 01:06:00., in der Gedenkstätte wird ein Hinweis auf die Bedeutung des rosa Winkels angebracht.Körzendörfer: Fast 10 Jahre Lesbenbewegung, S. 9–10;
Bühner: Feministisch, lesbisch und radikal.
Im Herbst 1985 testet die Lesbengruppe die Verlässlichkeit dieser Signale und besucht die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. In ihrer Begleitung befinden sich Mitglieder von Frauen-, Schwulen-, Ökologie- und Friedensgruppen. Obwohl MfS-Mitarbeiter die etwa 80 Teilnehmer*innen unverhohlen überwachen, kommt es nicht zu Zwischenfällen.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 01:08:30.

Marinka Körzendörfer

Aufbruch und Ernüchterung

Gegen Ende der 1980er wird die Arbeit im Vorbereitungskreis mühsam. Immer wieder reisen Mitstreiterinnen aus .Körzendörfer: Frauen und Staatssicherheit, S. 27. In den Gesprächskreisen wiederholen sich Themen, weil die Teilnehmer*innen wechseln. Ständig müssen die verbliebenen Frauen von vorn beginnen.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:49:00. Irgendwann hatten wir auch das Gefühl: Bei uns geht innerlich die Luft rausOral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 00:49:00., resümiert Körzendörfer. Gleichzeitig kündigen sich tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen an: Jede wußte, es passiert etwas, es muß einfach etwas passieren, es geht jetzt nicht endlos so weiter.Körzendörfer, in: Karstädt / Zitzewitz: …viel zuviel verschwiegen, S. 184.

Körzendörfer zieht sich aus der Lesbengruppe zurück. Sie engagiert sich für das Kontakttelefon der Bürgerrechtler*innen, das Ulrike Poppe 1988 mitinitiiert hatte. Im Oktober 1989 gründet sie mit zehn weiteren Frauen die Gruppe Lila Offensive, um sich in den gesellschaftlichen Wandel aus Frauensicht einzumischenZu der Gruppe gehör(t)en unter anderem Anke Vulturius, Annett Gröschner, Christian (bis 2006 Christina) Schenk, Christine Berndt, Corinna Boldt, Eva Schäfer, Evelyn Labsch, Gabriele Zekina, Katrin Bastian, Katrin Rohnstock, Kerstin Baarmann, Marinka Körzendörfer, Salva Al Khannak, Samirah Kenawi, Sophia Bickhardt, Sylke Stübner, Ulrike Heike Müller und Ute Großmann.
Vgl. Lila Offensive: Kurzbeschreibung [Zugriff am 08.02.2019 unter lilaoffensive.de ]
. Den ersten gemeinsamen Auftritt hat die Gruppe auf der Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989. Fünf Tage später sind die Grenzübergänge offen . Am 3. Dezember 1989 gründen über 1.000 Frauen in der Berliner Volksbühne den Unabhängigen Frauenverband (UFV) – eine Aktion, die die Lila Offensive mit vorbereitet hatte. Die neuen Initiativen beflügeln Körzendörfer: Uns schien die Welt offen, alles möglich.Körzendörfer: Immer wieder wir, S. 11.

Doch nach der Vereinigung 1990 setzt bei Körzendörfer bald die Ernüchterung ein. Die Ereignisse seien über diejenigen hinweggerollt, die wir versucht haben, diesen ganzen Wandel anzustoßen.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 01:44:30. Von 1990 bis 1994 arbeitet sie noch für den Unabhängigen Frauenverband als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit. Dann zieht sie sich aus dem politischen Leben zurück. Die neue Gesellschaft ist der ehemaligen Aktivistin fremd. 1996 schreibt sie: Das Schizophrene am jetzigen Staat ist, daß man eine größere Öffentlichkeit erreichen kann, aber niemand mehr hinhört.Körzendörfer, in: Karstädt / Zitzewitz: …viel zuviel verschwiegen, S. 183.

Gleichwohl wird Körzendörfer immer wieder angefragt und um Interviews, Magazintexte und Buchkapitel gebeten. Sie schreibt für die Zeitschrift Weibblick, die von 1992 bis 2000 erscheint, und wirkt an drei Filmen zu Lesben in der DDR mit. In ihren Beiträgen thematisiert sie meist ihre Erfahrungen als lesbische Aktivistin. Sie findet es wichtig, ihre Perspektive auf die Geschehnisse beizusteuern – damit ich sozusagen eine Stimme in dem Chor bin, sagt sie. Egal, was nachher für ein Lied herauskommt.Oral-History-Interview Körzendörfer, Zeitcode: ca. 01:57:30.

Text
Friederike Mehl
Stand
24. Mai 2019