Tatjana Böhm

Filmclips

Tatjana Böhm

Kindheit und Jugend

Tatjana Böhm wird im Jahr 1954 in eine Großfamilie in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) hineingeboren. In dem Haushalt, in dem sie aufwächst, leben ihre Eltern und ihre jüngere Schwester, dazu die Großmutter und die Tante mütterlicherseits, zeitweise auch die Eltern des Vaters. Die Familienmitglieder sind sehr unterschiedlich. Böhms Eltern sind überzeugte SozialistenOral History-Interview mit Tatjana Böhm, 28. November 2018 in Berlin-Friedrichshain, Interview für das Projekt „Berlin in Bewegung“ (2018–2019) im F⁠F⁠B⁠I⁠Z – das feministische Archiv e. V.; Interviewerin: Friederike Mehl; Kamera: Almut Wetzstein; Film und Transkript im Besitz des FFBIZ. Zeitcode ca.: 00:08:30. und arbeiten für den Staatsapparat. Ihre Mutter ist zeitweilig stellvertretende Bezirksvorsitzende des Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD). Die Großmutter, die den Haushalt führt, legt hingegen sehr viel Wert auf bürgerliche GebräucheOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:08:30., erzählt Böhm.

Als Kind hat Tatjana Böhm große Ziele: Ich wollte ein interessantes Leben führenOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:19:00., erzählt sie. Sie interessiert sich für die Geschichte der Menschheit, liest viel und träumt davon Weltreisende und Forscherin zu werden. Ab der dritten Klasse besucht sie eine Russisch-Sprachklasse für leistungsstarke Schüler*innen. Früh ist ihr klar, dass sie studieren möchte.

Tatjana Böhm

Studium in Berlin

Da es nur wenige Plätze im Fach Geschichte gibt, beginnt Tatjana Böhm nach ihrem Abitur 1973 ein Studium der Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität (HU) in Berlin. Mit dem behandelten Stoff kommt sie gut zurecht, nur die elitäre Umgebung verunsichert sie. Die ganzen Jungs wussten ja alles. Die kannten alle Professoren. Waren zum Teil die Kinder oder Enkel von West- oder Sowjetunion-Emigranten und haben natürlich männliche Verhaltensweisen an den Tag gelegtOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:22:00., erinnert sie sich, Ich war diesen Sachen überhaupt nicht gewachsen. Die waren dann alle in der Partei und nur ganz wenige nicht.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:22:00.

Nach einem Jahr pausiert Böhm mit ihrem Studium und kehrt nach Karl-Marx-Stadt zurück, um dort als Maschinenarbeiterin und Archivassistentin zu arbeiten. Sie heiratet ihren Freund. In der Zeit überreden ihre Eltern und ihr Partner sie, in die SED einzutreten: Meine Eltern wollten das sowieso. Mein Jugendfreund und Ex-Mann hat gesagt: Das kannst du doch machen. Dann bist du nicht mehr beim Studium so ausgegrenzt.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:26:00. Auch andere Überlegungen spielen eine Rolle: Was für mich eine entscheidende Sache war: Du kannst in der SED, dachte ich, mehr verändern.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:26:00.

Im Jahr 1976 nimmt Böhm das Studium wieder auf. Obwohl sie 1978 eine Tochter zur Welt bringt, macht sie schon 1980 den Diplomabschluss.

Tatjana Böhm

Arbeit als Wissenschaftlerin

Nach Studienende beginnt Böhm im kurz zuvor gegründeten Institut für Soziologie und Sozialpolitik (ISS) der Akademie der Wissenschaften eine Promotion mit dem Thema Frauen- Sozial- und Bevölkerungspolitik in der BRD. Heute sagt sie, sie habe fehlpromoviertOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:32:30.. Ihre eigene Forschung und ihre Beteiligung an wissenschaftlichen Arbeiten am ISS und am Institut für Soziologie der HU Berlin, für das sie zwischendurch arbeitet, setzen einen Spagat zwischen wissenschaftlicher Arbeit und politischer Anpassung voraus. Böhm gerät in einen persönlichen Konflikt. Bestimmten Schwachsinn konnte ich nicht schreibenOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:42:30., erinnert sie sich. Besonders stört sich die junge Wissenschaftlerin daran, wie die Sozialwissenschaft die staatliche Bevölkerungspolitik bestätigt – vor allem die Maßnahmen, die Bürger*innen anregen sollen, mehr Kinder zu bekommen. Das hab ich grundsätzlich angezweifeltOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:19:00., sagt sie, also ob das überhaupt menschenrechtlich so in Ordnung ist.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:43:30.

Einige von Böhms Kolleg*innen, die sich mit Frauenforschung beschäftigen, sind ebenfalls unzufrieden. Sie treffen sich in Diskussionskreisen, um sich über die Bedingungen auszutauschen, unter denen sie forschen.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:53:00 Auch über die Wissenschaft hinaus steht Böhm mit vielen Menschen in Kontakt, darunter Kritiker*innen, die politisch einen Schritt weitergegangen sind und dann auch schwer sanktioniert wurden.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 00:53:00. Die Netzwerke der jungen Frau erstrecken sich bis in die BRD. Von dort bezieht sie über Freund*innen anti-stalinistische und feministische Literatur.

Im Frühherbst 1989 entscheidet Tatjana Böhm schließlich, ihrer Kritik Taten folgen zu lassen und sich politisch mehr zu engagieren. Sie schließt sich der Sozialistischen Fraueninitiative (SOFI) an, die zuvor von einigen Frauen an der Universität gegründet wurde .Im Jahr 1990 änderte die Gruppe ihren Namen zu Solidarische Fraueninitiative. Im September tritt sie aus der SED aus, weil sie ein Zeichen setzen möchte gegen die Einmischung der Politik in die Wissenschaft .

Ihr neues Engagement bedeutet auch ein Risiko. Seit dem Tiananmen-Massaker in China im Juni 1989 hat Böhm Angst, dass die Machthaber in der DDR auf die Umbruchstimmung im Land ähnlich reagieren könnten.Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), 03.06.2015: Verordnetes Schweigen am Platz des Himmlischen Friedens [ Zugriff am 18.04.2019 unter bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/185616/25-jahre-tiananmen-massaker-03-06-2014 ] Um sich den Demonstrationen um den 7. Oktober 1989, dem Tag des Jubiläumsfestes zum 40-jährigen Bestehen der DDR, anzuschließen, sichert sie sich ab.Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. (Hg.), Dezember 2018: Demonstrationen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin [ Zugriff am 10.05.2019 unter berlin-in-bewegung.de/jugendopposition.de/145462 ] Mit dem Vater ihrer Tochter, von dem sie seit 1982 geschieden ist, vereinbart sie schriftlich, dass er im Falle ihrer Verhaftung das Sorgerecht übernimmt. Es kommt jedoch nicht dazu.

Tatjana Böhm

Vom UFV zur Ministerin

Nach der Maueröffnung überschlagen sich die Ereignisse in Böhms Leben. Zunächst schließt sie sich der Vorbereitungsgruppe an, die das Frauentreffen am 3. Dezember 1989 in der Berliner Volksbühne organisiert. Über 1.000 Frauen aus Lesben/Frauengruppen in der DDR und Einzelfrauen treffen sich dort, um die politischen Prozesse im Land zu kommentieren, Forderungen zu formulieren und sich zu organisieren. Gemeinsam beschließen sie die Gründung des Unabhängigen Frauenverbands (UFV) . Böhm wird dazu auserkoren, den UFV am Zentralen Runden Tisch zu vertreten.

Am Runden Tisch, der bis zur Volkskammerwahl März 1990 tagt, engagiert sich Böhm in der Arbeitsgruppe Neue Verfassung und ist Mitautorin der Sozialcharta. Beide Dokumente, hoffen die Autor*innen, sollen die Grundlage für eine reformierte DDR bilden, die sich im Laufe der europäischen Integration mit der BRD vereinigen soll.Vgl. DDR 1989/90 (Hg.): Entwurf – Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik [ Zugriff am 18.03.2019 unter ddr89.de/zrt/verfassung.html ] Im Februar 1990 wird sie zudem zu einer von acht Minister*innen ohne Geschäftsbereich in der zweiten Regierung von Ministerpräsident Hans Modrow ernannt. Dass sie den Posten für den UFV einnimmt, habe sie vorher mit ihren Mitstreiter*innen ausgewürfeltOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 02:11:30., sagt Böhm, das ist ja alles damals holterdiepolter passiert.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 02:11:30.

Für Tatjana Böhm ist es eine äußerst arbeitsreiche Zeit: Der Alltag sah so aus: Früh sind wir abgefahren. Dann manchmal an den Runden Tisch. Dann haben wir auch teilweise Akten für irgendwelche Sachen studiert […]. Dann sind wir ins Ausland gefahren. […] Wahlkampf hatten wir ja auch noch. Ich hatte ordentlich zu tun.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 02:13:00. Ihr politisches Engagement erfordert persönliche Veränderungen. Damit sie Zeit für den Runden Tisch und ihren Job als Ministerin hat, zieht Böhms Ex-Mann vorübergehend in ihre Wohnung, um sich um die gemeinsame Tochter zu kümmern.

Während eines Besuchs der DDR-RegierungsvertreterInnen bei Helmut Kohl in Bonn wendet sich für Tatjana Böhm das Blatt: da wurde mir schon klar, die Macht liegt wo ganz anders.Tatjana Böhm in: Langels, Otto, 01.01.2015: Runder Tisch in Ost-Berlin - Eine Schule der Demokratie [Zugriff am 07.03.2019 unter deutschlandfunk.de/runder-tisch-in-ost-berlin-eine-schule-der-demokratie.724.de.html ] Ihre Vermutung sollte sich bestätigen. Am 18. März 1990 finden die ersten freien Wahlen in der DDR statt. Der UFV, der zusammen mit den Grünen kandidiert hatte, bekommt keinen Platz in der Volkskammer. Tatjana Böhm ist enttäuscht: Als erstes war ich über unsere Unbedarftheit und Dummheit entsetzt, weil wir niemals den ersten Platz hatten, den hat man immer erst mal den Grünen überlassen. Und da immer nur ein Mensch gewählt wurde und niemand uns den Platz abgetreten hat, war es Pech.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 02:20:00. Von Juni bis Oktober arbeitet sie für die Volkskammerfraktion der Listenverbindung Bündnis 90/Die Grünen.

Tatjana Böhm

Ringen um eine neue Verfassung

Nach den März-Wahlen sind Verfassungsentwurf und Sozialcharta zunächst in der Schublade verschwunden. Doch Böhm hat die Idee noch nicht aufgegeben, dass aus einer breiten gesellschaftlichen Diskussion eine neue Verfassung hervorgehen könnte. Wann, wenn nicht jetzt? Wann ist die Gelegenheit, das zu machen?Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 02:22:30., beschreibt sie den Impuls des Sommers 1990. Böhm nimmt erneut Anlauf und gründet zusammen mit anderen das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder.Vgl. Banditt, Christopher, 17.09.2015: Das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“ in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung [ Zugriff am 07.03.2019 unter boell.de/de/2015/09/17/die-verfassungsdiskussion-der-wiedervereinigung ] Die Gruppe, deren Sprecherin sie wird, besteht aus rund 200 Menschen, darunter etliche namhafte Persönlichkeiten aus Ost und West.Vgl. Banditt: Das Kuratorium. Sie setzen sich dafür ein, dass sich DDR und BRD mit der Vereinigung eine neue gemeinsame Verfassung geben, wie es nach § 146 des Grundgesetzes möglich wäre.Banditt: Das Kuratorium. Die Vereinigung findet am 3. Oktober 1989 indes nach § 23 des Grundgesetzes statt – das vereinigte Land erhält die Verfassung der BRD.

Tatjana Böhm

Gang in die Verwaltung

Im Dezember 1990 versucht Böhm nochmals, als Politikerin Fuß zu fassen. Bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen kandidiert sie auf der Landesliste der Grünen in NRW für den Bundestag. Die Partei scheitert an der 5-Prozent-Hürde. Als ihre Tochter im Teenager-Alter sich gegen einen Umzug ausspricht, lehnt Böhm Angebote ab, für die Fraktionsarbeit nach Bonn oder an eine Universität im Ausland zu gehen. Stattdessen forscht und publiziert sie freiberuflich zu Arbeitsmarkt und Frauenarbeit in den neuen Bundesländern.

Im Jahr 1992 bewirbt sich Böhm als Referatsleiterin im Brandenburger Frauenministerium. Sie bekommt den Job . Heute sagt Böhm, sie habe das Herausgehen aus der aktiven Politik als gut empfunden. Für das Ministerium betreut sie den Aufbau einer Struktur von Frauenprojekten in Brandenburg: Frauenhäuser, Anti-Gewalt-Arbeit, Initiativen gegen Zwangsverheiratung. Sie beschäftigt sich mit dem § 218 StGB, sexuellen Übergriffen und reproduktiven Rechten, ist involviert in Gesetzgebungsverfahren bezüglich Vergewaltigung in der Ehe, gewaltfreier Erziehung und Kitaplätzen.

Der Perspektivwechsel – vom Frauenverband in die Verwaltung – bringt Konflikte mit sich: So, wie ich mich entwickeln musste, hab ich’s auch von einigen Projekten verlangt. Und das war teilweise schwierigOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 02:40:30., erzählt Böhm. Wenn die Landesregierung spart, muss Böhm die Kürzungen weiterreichen – und mit dem Gegenwind der Frauen umgehen, deren Projektgelder gestrichen werden. Besonders in der Anfangszeit der Behörde, als der öffentliche Dienst sehr, sehr offenOral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 02:33:30. ist, hat Böhm hier jedoch auch viel Spielraum. Sie nutzt ihn für Themen, die sie begeistern, etwa den Aufbau von Mädchenprojekten in Brandenburg.

Seit 2018 ist Tatjana Böhm berentet und pendelt zwischen Berlin und einem kleinen Ort in Norditalien. Wenn sie heute auf ihr politisches Leben blickt, sind es vor allem die schwierigen Zeiten, die sie in bester Erinnerung hat. Ich hab ein großes Glück gehabt, an so einer Umbruchphase beteiligt gewesen zu sein, sagt sie, egal, ob es erfolgreich war oder nicht, aber dieses Mittun an dem Prozess, das finde ich schon sehr gut.Oral-History-Interview Böhm, Zeitcode: ca. 03:14:00.

Text
Friederike Mehl
Stand
29. Mai 2019