Irena Kukutz
Kindheit und Jugend
Irena Kukutz wird 1950 im Dorf Parchau/Burg nahe Magdeburg geboren. Die Eltern stammen aus einfachen Verhältnissen. Sie setzen große Hoffnungen in die junge DDR. Kukutz’ Vater wird zunächst für die Polizei angeworben und arbeitet schließlich beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS). 1952 wird er versetzt und zieht mit der Familie nach Berlin. Kukutz’ Mutter führt den Haushalt, als ihre drei Kinder noch sehr jung sind. Später nimmt sie eine Stelle als Sekretärin im Ministerium für Landwirtschaft an, wo sie bis zur Chefsekretärin des Ministers aufsteigt.
Kukutz’ Kindheit verläuft in den staatlich vorgesehenen Bahnen. Bis zur achten Klasse ist sie eine Vorzeigeschülerin, sagt sie, dann fingen die Diskussionen an
Oral History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 00:12:30.. Die junge Frau nimmt immer mehr Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Ideologie und DDR-Realität wahr. Sie diskutiert viel mit den Eltern, rebelliert gegen deren Vorstellungen, wie ihre Zukunft aussehen soll. Die Distanz zur Familie vergrößert sich, als Kukutz 1968 ihren späteren Ehemann kennenlernt. Er stammt aus einem kapitalistischen Elternhaus
Oral History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 00:18:30., wie sie heute scherzt. Kurze Zeit später wendet sich Irena von ihren Eltern ab. Grund ist deren konforme, zustimmende Haltung zur Niederschlagung des Prager Frühlings und das Drängen auf ihren SED-Eintritt. Da, wo mich meine Eltern hinschieben wollten, wollte ich auf keinen Fall hin
Oral History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 00:19:00., sagt sie.
Irena Kukutz
Frauen für den Frieden
Mit dem Abitur absolviert Irena Kukutz eine Facharbeiterausbildung als „Betonbauer“. Sie will Baukeramik studieren, weil sie sich von dem künstlerischen Studium eine gewisse Freiheit
Oral History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 00:19:00 erhofft. Die Bewerbung an der Kunsthochschule Weißensee für das Fachgebiet Keramik glückt. Im ersten Studienjahr kommt ihr Sohn zur Welt. Nachdem ihr Mann den Grundwehrdienst absolviert hat, zieht die junge Familie nach Berlin-Pankow, später nach Prenzlauer Berg. Dort trifft Kukutz nach dem Diplom-Abschluss ihre Studienkollegin Bärbel Bohley wieder.
Gemeinsam mit der Freundin will Kukutz das Umfeld verbessern, in dem ihre gleichaltrigen Söhne aufwachsen. Sie planen im Wohnbezirksausschuss mitzuarbeiten, schreiben Protestbriefe in denen sie die marode Bausubstanz der Wohnhäuser, Müllberge und verwahrloste Spielplätze bemängeln. Ausschlaggebend waren wirklich die Kinder
Oral History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 00:35:30, erklärt Kukutz ihr frühes Engagement.
1982 beschließt die Volkskammer ein neues Wehrdienstgesetz, das Widerstand provoziert. Es sieht vor, dass Frauen wehrpflichtig werden, wenn sich die DDR im Verteidigungszustand befindet.Miethe, Ingrid: Die Frauen für den Frieden – Ost [ Zugriff am Zugang am 15.01.2019 unter digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-frauen-fuer-den-frieden-ost ] Kukutz formuliert ihre Ablehnung des Gesetzes an die Volkskammer der DDR. Dabei bleibt es nicht: Bärbel Bohley hatte eine Eingabe geschrieben für sich alleine. Ich hatte eine Eingabe geschrieben für mich alleine. In Halle hatten Frauen für sich alleine geschrieben. Und dann, als diese nicht-Antworten kamen, haben wir uns zusammengesetzt: ‚Jetzt legen wir noch einmal nach.‘
Oral History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 00:39:30 Die Frauen sammeln 150 Unterschriften und schicken eine erneute Eingabe. Die Staatssicherheit reagiert mit Vorladungen und Einschüchterungen einzelner Frauen.Miethe, Ingrid: Die Frauen für den Frieden – Ost [ Zugriff am 15.01.2019 unter digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-frauen-fuer-den-frieden-ost ]
Im Oktober 1982 gründen zahlreiche an der Eingabe beteiligte Frauen – unter ihnen Irena Kukutz – die Gruppe Frauen für den Frieden in Ost-Berlin .Miethe, Ingrid: Die Frauen für den Frieden – Ost [ Zugriff am Zugang am 15.01.2019 unter digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-frauen-fuer-den-frieden-ost ] Die Gruppe wendet sich gegen die zunehmende Militarisierung der DDR-Gesellschaft und das Wettrüsten. Die Frauen organisieren sich in Privatwohnungen und Kirchenräumen, pflegen Kontakte zu Frauengruppen in der DDR, Westberlin und ganz Europa. Vernetzungstreffen, zahlreiche Appelle mit anderen Gruppen und riskante Aktionen bringen ihnen viel Aufmerksamkeit, machen sie aber in eigenen Kreisen nicht immer beliebt: Wir waren den meisten zu radikal in unseren Forderungen und in unseren Handlungen.
Oral History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 01:15:00
Die Aktionen der Ostberliner Gruppe haben Konsequenzen . Im Dezember 1983 werden Ulrike Poppe und Bärbel Bohley in Untersuchungshaft genommen, Irena Kukutz und Jutta Seidel für einen Tag inhaftiert und in den Folgewochen regelmäßig verhört. Nach internationalen Protesten stellt das MfS Ende Januar 1984 das Ermittlungsverfahren ein, Poppe und Bohley kommen frei. Kukutz bleibt bis zum Ende der 1980er Jahre in der Frauengruppe aktiv.
Irena Kukutz
1989
Das Jahr 1989 beginnt für Irena Kukutz mit einem Einschnitt. Zusammen mit Bärbel Bohley und Katja Havemann enttarnt sie ihre Mitstreiterin Monika Haeger, die die Frauen für den Frieden und andere Gruppen bespitzelt hatte. Havemann und Kukutz belassen es nicht bei der Enttarnung. Sie wollen den Verrat aufarbeiten – auf eigene Weise. Die beiden Aktivistinnen befragen Haeger zu ihren Handlungen und ihren Beweggründen. Bereits 1990 veröffentlichen sie die Auseinandersetzung in Form eines Buchs.Kukutz / Havemann: Geschützte Quelle. Ich wunder mich darüber heute
, sagt Kukutz, aber ich wollte sie ja auch verstehen. Ich wollte das verstehen.
Oral-History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 01:28:30.
Im September 1989 gründen 30 Personen, darunter Katja Havemann und Bärbel Bohley, die Vereinigung „Neues Forum“, für die sich Irena Kukutz fortan engagiert.Vgl. Kukutz, Irena: Die Gründung des Neuen Forums, in: Heinrich-Böll-Stiftung, Archiv Grünes Gedächtnis (Hg.): Grünes Gedächtnis 2009, Berlin 2009. [ Zugriff am 14.01.2009 unter boell.de/de/content/gruenes-gedaechtnis-2009 ] Sie möchten eine politische Plattform bieten, um die Bürger*innen der DDR in den demokratischen Dialog
Kukutz: Die Gründung des Neuen Forums, S. 12–13. über die Missstände im Land zu bringen. Anders als oppositionelle Gruppen zuvor strebt das Neue Forum die Gründung einer legalen Vereinigung an. Tausende DDR-Bürger*innen unterschreiben in den folgenden Wochen den Aufruf.Kukutz: Die Gründung des Neuen Forums, S. 17. Nach Repressalien und zähem Ringen mit den Machthabern wird das Neue Forum am 9. November 1989 staatlich anerkannt.Kukutz: Die Gründung des Neuen Forums, S. 22.
Irena Kukutz
Umbruchzeiten
Die Maueröffnung ist für Irena Kukutz zunächst ein Schock
Oral-History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 01:58:00. . Im Frühjahr 1990 ändert ein Italienurlaub ihren Blick auf die Situation: Als wir da plötzlich beim Sonnenaufgang durch die Alpen fuhren, da habe ich einen Heulkrampf gekriegt. Weil ich gedacht habe: Da haben die uns doch wirklich vierzig Jahre eingesperrt.
Oral-History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 01:43:00. Inmitten des Umbruchs bleibt indes kaum Zeit für eine Atempause. Von Dezember 1989 bis März 1990 sitzt Kukutz für das Neue Forum am Zentralen Runden Tisch in der AG Frauenpolitik.Schröder, Roswitha: Politischer Umbruch und Bürgerbewegung – Publikationsfindbuch zum Bestand DA 3 Zentraler Runder Tisch, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 2008, Heft 1, S. 77-85. [ Zugriff am 16.01.2019 unter bundesarchiv.de/DE/Content/Publikationen/Mitteilungen/mitteilungen-2008-1.html ] Im Herbst 1990 gründet sie gemeinsam mit anderen die Robert-Havemann-Gesellschaft (RHG), die die Opposition gegen die SED-Diktatur dokumentieren und erforschen soll.Robert-Havemann-Gesellschaft e. V.: Entstehungsgeschichte der RHG, [ Zugriff am 16.01.2019 unter havemann-gesellschaft.de/ueber-uns/entstehungsgeschichte-der-rhg ]
Mit der Berlin-Wahl im Dezember 1990 zieht das Neue Forum als Teil des Wahlbündnisses Bündnis 90/Die Grünen in das Abgeordnetenhaus ein.ARD-aktuell / tagesschau.de: Abgeordnetenhauswahl Berlin 1990 [ Zugriff am 16.01.2019 unter wahl.tagesschau.de/wahlen/1990-12-02-LT-DE-BE/index.shtml ] Als eine von drei Abgeordneten des Neuen Forums hat Irena Kukutz viele Arbeitsschwerpunkte: Kultur, Soziales, Bildung, Jugend/Familie und Frauen . Die Arbeit sagt ihr nicht zu, das Gefühl tatsächlich was bewegen zu können
entpuppt sich für sie als Illusion
Oral-History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 01:55:30.. Die größte Inspiration beschert ihr ein Ehrenamt, das Kukutz kurz vor Ende ihrer Zeit im Parlament annimmt. 1994 wird sie Anstaltsbeirätin im Strafvollzug des Frauengefängnis Plötzensee .
Als Beirätin lernt Kukutz viel über die neuen Verhältnisse: Da kann man einfach alles erfahren, was in der Gesellschaft eine Rolle spielt und das auf diesem engsten Raum.
Oral-History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 02:19:00. Es freut sie, wenn sie sich für einzelne Insassinnen einsetzen kann oder als sie die geplante Schließung des offenen Vollzugs abwendet. Ein „Aha-Erlebnis“ in der JVA in der Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg prägt sich ihr besonders ein. Bei einem Besuch in dem Gefängnis findet sich Kukutz in ebenjenen Räumen wieder, in denen sie zu Beginn der 1980er Jahre verhört wurde. [Ich] hab gedacht, das ist doch irre, jetzt kommst du [her] und läufst mit einem Schlüssel rum. Und die hätten dich hier weggesperrt.
Oral-History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 02:23:00. Bis 1999 bleibt Kukutz Beirätin.
Irena Kukutz
Aufarbeitung der Frauengeschichte der DDR-Opposition
Nach ihrer aktivistischen und politischen Laufbahn beschäftigt sich Kukutz als Wissenschaftlerin und Dokumentarin mit der Aufarbeitung der von ihr durchlebten Geschichte. Für die Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur des Deutschen Bundestags erstellt sie eine Expertise über die Frauen für den Frieden.Kukutz, Irena: Die Bewegung „Frauen für den Frieden“ als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Band VII/2, Baden Baden/Frankfurt am Main 1995, S. 1285–1408. [ Zugriff am 14.01.2019 unter enquete-online.de/recherche ] Ab Mitte der 1990er Jahre arbeitet Kukutz hauptsächlich für die Robert-Havemann-Gesellschaft. Bis zu ihrer Berentung im Jahr 2016 bereitet sie in Dokumentationen, Artikeln, Bestandsverzeichnissen und Ausstellungen die Geschichte des Frauenwiderstands in der DDR und des Neuen Forums auf.
Bis heute beschäftigt sich Irena Kukutz mit der Vergangenheit, derzeit mit der Biographie ihrer Freundin und Mitstreiterin Bärbel Bohley. Ihre Forschungen bedeuten auch einen Blick in die Zukunft. Ich hoffe ja immer, dass sich […] die Enkel-Generation auch noch irgendwie dafür interessiert, was meine Generation gemacht hat und die davor und die davor
, so Irena Kukutz, wir kommen ja alle irgendwo her.
Oral-History-Interview Kukutz, Zeitcode: ca. 03:17:00.